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Scientism/Wissenschaftismus – Eine Warnung

Aktualisiert: 28. Aug. 2019

re:look - Kurzaufriss


Dr. Philipp Lengsfeld

Version: 18. August 2019



In diesem Aufriss soll das Thema ‘scientism‘ behandelt werden. Basis ist ein Durchritt durch einen umfangreichen Artikel von Gwendolyn Blue aus dem letzten Jahr.


Mit der detaillierten Arbeit “Scientism: A problem at the heart of formal public engagement with climate change“ macht die Autorin Gwendolyn Blue, eine Geographin von der University of Calgary, auf ein aus ihrer Sicht unterschätztes Problem, nämlich des ‘scientism‘, aufmerksam (Blue (2018)). Veröffentlicht ist der Artikel in ACME: An International Journal for Critical Geographies. Obgleich es sich bei der Zeitschrift nicht um ein klassisches wissenschaftliches Journal handelt – davon möchte sich die Zeitschrift radikal abgrenzen – handelt es sich aber ganz offenbar um einen ernstzunehmenden Beitrag zur Debatte auf einer durchaus ernstzunehmenden Plattform.


Interessant ist vor allem die nicht allgemein bekannte Begrifflichkeit ‘Scientism‘, die Blue so beschreibt: „[…] [Scientism refers to a] phenomenon whereby authority is implicitly granted to scientific and technical experts to define the meaning, scope and by extension solution for public policy concerns (Referenzierung in der Originalarbeit, Welsh and Wynne (2014)).” Und “Scientism is at play when certain normative commitments and foundational assumptions are obscured by presenting them as if they are objectively determined by science.”


Einschub: Im Deutschen scheint die beste Übertragung von ‘Scientism‘ ‘Wissenschaftismus‘ zu sein, da ‘Scientism‘ ganz klar an Begrifflichkeiten, wie ‘Socialism, Communism or Capitalism‘, also ‘Sozialismus, Kommunismus oder Kapitalismus‘ anknüpft. Momentan findet man z.B. bei Wikipedia eher die Bezeichnung ‘Szientizismus‘, ein Begriff der aber im Deutschen aus meiner Sicht nicht gut funktioniert – deshalb wird in diesem Kurzaufriss der Begriff ‘Wissenschaftismus‘ benutzt. Die Kernbeschreibung von Blue würde dann ungefähr so lauten:


„Wissenschaftismus bezeichnet ein Phänomen, bei dem Autorität implizit an wissenschaftliche und technische Experten übertragen wird, das dann die Bedeutung, den Umfang und in Erweiterung auch die Lösung für öffentliche Politikbelange definiert.“. Der zweite Kernsatz lautet: „Wissenschaftismus ist am Werk, wenn (gesellschaftliche) normative Verpflichtungen und grundlegende Annahmen dadurch vernebelt werden, dass man sie als objektiv aus der Wissenschaft hergeleitet darstellt.“


Blue führt weiter aus, dass Wissenschaftismus schon länger dort ein Problem ist, wo technische Expertise in der Analyse gesellschaftlicher Probleme besonders wichtig ist. Insbesondere im Umweltbereich ist dies assoziiert mit einer “scientization of politics“ (“Verwissenschaftlichung von Politik“) und “politiciation of science“, der “Politisierung von Wissenschaft“.


Blue führt dann aus, warum sie Wissenschaftismus gerade im Zusammenhang mit der Klima-Debatte für bedenklich hält: “Scientism is best understood as a political doctrine and normative stance that holds that science is the most authoritative and legitimate knowledge for collective decision-making.“ Die Überhöhung von wissenschaftlichen Erkenntnissen zu einem quasi-Automatismus im politischen Raum wird von Blue ausführlich kritisch analysiert. Sie führt z.B. aus, wie sich Wissenschaftismus im öffentlichen Engagement beim Thema Klimawissenschaft auswirkt – ein Mechanismus sei z.B. die verstärkte Einbindung der Sozialwissenschaften, die sich z.B. mit der Kompilierung von wissenschaftlichen Konsensstatements beschäftigen, die Legitimität derer in Frage stellen, die andere Einschätzungen artikulieren oder wissenschaftliche Erkenntnisse in vereinfachter, unzweitdeutiger oder unterhaltender Form verbreiten (Referenzen siehe Originalarbeit).


Blue steigert ihre Kritik am Wissenschaftismus im Bereich Klimawissenschaft mit ihrer Analyse des von ihr so benannten “dominant policy framework put in place by the global climate regime“. Aus Sicht von Blue führt dieser ‘dominant frame‘ zu einem verengten, aus ihrer Sicht zu sehr neolibral geprägten Blick auf die Gesellschaft. Mit Referenz auf Daniel Sarewitz erwähnt Blue sogar die Charakterisierung des gesamten Vorgangs als ‘the plan‘ oder ‘der Plan‘ (Sarewitz (2011)). Als Beispiele für diese aus ihrer Sicht klaren Fehlentwicklungen nennt Blue ”the foregrounding of consensus as a desirable political outcome“ und die ”centrality of neoliberal environmentalism as guiding political imaginary”. Zum ersten Punkt detailliert Blue das Thema wissenschaftlicher Konsens und seine zentrale Rolle in der momentanen Klimadiskussion. Dabei weist sie auf eine ungesunde Dynamik hin, in der ein simplistischer ‘scientific consensus‘ und Gegenkräfte, die primär die Zweifel verstärken, letztlich beide das zugrundeliegende Prinzip stärken, welches quantitative Wissenschaft in das Zentrum des Handelns rückt.


Wünschenswert wäre aus Sicht der Autorin eher ein Konzept, was sie auf Brian Wynne referenziert, in dem bei der Berücksichtigung wissenschaftlicher Expertise für politisches Handeln die Bewertung, der Kontext und gegenläufige Einschätzungen stärker beachtet werden.


Ausführlich analysiert und kritisiert die Autorin die aus ihrer Sicht herrschende Dominanz des “neoliberal environmentalism“ als Leitprinzip der globalen Klima-Debatte.


In ihrer Schlussfolgerung betont die Autorin, dass aus ihrer Sicht Wissenschaftismus mindestens genauso als zentrales Problem für das öffentliche Engagement beim Thema Klimawandel gesehen werden muss, wie das Nichtverstehen von Wissenschaft, welches im dominierenden Diskurs an vorderste Stelle gerückt wird.



Re:look Fazit:


Dieser brillante Aufsatz rückt das unterschätzte Thema Wissenschaftismus (Szientizismus) in den Fokus. Trotz oder gerade wegen ihrer dezidiert linksalternativen, anti-neoliberalen, anti-Establishment-Einstellungen gelingt es der Autorin, die Schwächen, Limitationen und massiven Unzulänglichkeiten der momentanen wissenschaftlich-politischen Maschinerie im Bereich Klima referenziert und klar zu exponieren.



 

Quellen und Referenzen


Blue (2018)


Blue, ACME, 17(2): 544-560 (2018);


ACME Journal


Brian Wynne


Welsh and Wynne (2013)


Welsh I and Wynne B (2013) Science, scientism and imaginaries of publics in the UK: Passive objects, incipient threats. Science as Culture

22 (4): 540-566


Dan Sarewitz


Sarewitz (2011)


Sarewitz D (2011) Does climate change knowledge really matter? WIRES Climate Change 2 (4): 475–481



 

Review:


Dieser Kurzaufriss wurde an mehrere qualifizierte Personen geschickt, von denen drei das Papier intensiv gelesen und keine grundsätzlichen Bedenken geäußert haben, sondern die Thematik als relevant eingestuft haben. In einem Fall gab es keine Rückmeldung.

Im Sinne des open review wird zusätzlich Folgendes angeboten: Wenn jemand eine fundierte Gegenposition zu dieser Kritik am Wissenschaftismus kennt oder eine solche selbst äußern will, dann wird diese Rückmeldung publiziert, vor allem, wenn re:look climate diese referenzierte Gegenposition mit einer kleinen Einordnung und offen (d.h. mit Name und Institution und dem Einverständnis, dass diese auch öffentlich genannt werden können) zugeschickt wird.

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